Aktuelle Projekte
Spurensuche nach einer Herkunftssprache: Der Fall Hungaro-Romani
Para-Romani Varietäten, die sich durch die Kombination von Romani-Vokabular mit dem grammatischen Gerüst einer weiteren Sprache auszeichnen, das in der Regel der ko-territorialen Mehrheitssprache entnommen ist, sind historisch seit dem 17. Jahrhundert belegt. Die heute gesprochenen und als Para-Romani bezeichneten Varietäten sollten jedoch als Register oder Styles der jeweiligen Mehrheitssprache betrachtet werden, da der Großteil des Romani-Lexikons verloren gegangen ist und diese Varietäten nur in bestimmten Situationen und Umfeldern zum Einsatz kommen. In der aktuelleren Romani-Literatur wird von einer Para-Romani Varietät berichtet, in der das Romani-Lexikon mit dem Ungarischen kombiniert und von Romungros in Ungarn gesprochen wird.
Das in Zusammenarbeit mit Márton A. Baló vom Hungarian Research Centre for Linguistics und Mátyás Rosenberg von der Eötvös-Loránd-Universität durchgeführte Projekt hat zum Ziel, Daten zu eben jener ungarischen Varietät zu erheben und diese zu dokumentieren. Auf Basis historischer wie auch neuer Daten, die mittels semistrukturierter Interviews erhoben sowie den sozialen Netzwerken entnommen wurden, untersuchen wir die lexikalischen und morphologischen Eigenschaften, die soziolinguistische Funktion und den situativen Kontext, der das Sprechen des Spezial-Vokabulars aktiviert. Des Weiteren streben wir die Rekonstruktion der Genese dieser Varietät an, indem wir die ältesten Belege des Hungaro-Romani zu identifizieren versuchen.
Forschung: Zuzana Bodnárová, Márton A. Baló, Mátyás Rosenberg
Romani in Kontakt: Linguistische Konvergenz in Zentraleuropa
Das Zusammentreffen vierer großer Zweige der Sprachfamilien Europas, nämlich Germanisch, Romanisch, Slawisch und Finno-Ugrisch, macht Zentraleuropa zu einer linguistisch interessanten und ergiebigen Region. Mitten in diesem Konglomerat finden sich auch die Roma und Sinti mit ihrer Herkunftssprache Romani. Da Romani von einer jeweiligen mehrheitsgesellschaftlichen Sprache umspannt ist, ist es reich an Phänomenen des Sprachkontakts. In diesem Projekt untersuchen wir Aspekte des Kontakts, die gemeinsame sprachliche Phänomene in den jeweiligen Sprachen der Region hervorgebracht haben.
Unser derzeitiger Fokus liegt auf Lokaladverbien (Direktionale), die mit Topo- bzw. Oikonymen kombiniert werden, wie etwa in den Beispielen „außi nach Wien“ und „auffi nach Graz“, die typisch für Dialekte des Oberdeutschen sind. Vergleichbare Kompositionen finden sich in Ungarisch, Slowenisch und in regionalen Romani-Dialekten. Ziel des Projekts ist es, die imaginativen, semantischen und diskursiven Implikationen und die Genese derartiger arealer Phänomene in typologisch unterschiedlichen Sprachen zu erforschen.
Forschung: Daphne Reitinger, Jakob Wiedner
Literaturen und Minderheiten Südosteuropas – MILES
Das Projekt hat die nach 1945 in Minderheitensprachen verfasste Literatur Südosteuropas zum Inhalt und untersucht die peripheren Stimmen einer polyphonen, multi- und plurilingualen Region. Die Region Südosteuropa wird jedoch nicht in ihrer Gesamtheit beleuchtet, sondern es wird ein Fokus auf die Länder des ehemaligen Jugoslawien gelegt (Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Kosovo*, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und Slowenien) und ein Vergleich der Praktiken in Rumänien mit der literarischen Produktion der Minderheitengruppen dieser Länder angestellt (z. B. Ungarische Literatur in der Wojwodina, istrorumänische Dichtung in Kroatien, deutschsprachige Romanliteratur im Banat, in verschiedenen Romani-Dialekten oder auf Jiddisch verfasste Literatur etc.).
* Diese Bezeichnung berührt nicht die Standpunkte zum Status und steht im Einklang mit der Resolution 1244/1999 des VN-Sicherheitsrates und dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo.
Mit dem Projekt wird beabsichtigt, dieser literarischen Produktion eine Stimme zu verleihen und deren Sichtbarkeit zu erhöhen, da sie häufig nicht einmal in die Mehrheitssprachen übersetzt wird, von Übersetzungen in jene Sprachen, die im Allgemeinen weit verbreitet sind, ganz zu schweigen, wodurch sie somit zu einem großen Teil unbekannt, ungelesen und nicht ausreichend analysiert ist. Eine umfassende Forschung zu diesen kulturellen Texten ist bis zum jetzigen Zeitpunkt ausgeblieben. Ziel des Projekts ist es, dieses Phänomen synchron anderen Regionen Europas gegenüberzustellen und mit ihnen zu vergleichen, und diachron den rechtlichen Rahmen, in dem sich diese literarischen Werke seit 1945 befinden und bewegen, zu untersuchen. Die Zusammenarbeit mit Literat:innen, Verlagen, Übersetzer:innen, Kulturbeauftragten, Einrichtungen und Gemeinschaften in Südosteuropa nimmt eine Schlüsselposition in diesem Projekt ein.
Forschung: Oana Hergenröther
Semiotische Repertoires und Sprachgebrauch gehörloser Migrant:innen in der Steiermark
Gehörlose Migrant:innen sind mit vielen sprachlichen und sozialen Herausforderungen konfrontiert, weisen aber auch ein besonderes kommunikatives Potential auf.
Mittels semi-strukturierter Interviews, die von einer gehörlosen Person mit Österreichischer Gebärdensprache (ÖGS) als Muttersprache durchgeführt werden, ergründet das Forschungsprojekt den Sprachhintergrund und den aktuellen Sprachgebrauch von gehörlosen Migrant:innen in der Steiermark.
Forschung: Julia Gspandl
Video: „Projektbeschreibung in International Sign“
Multilinguale Strategien in translingualer Literatur
Der Großteil an weit rezipierten literarischen Werken bewegt sich in der Sphäre des Monolingualismus – entweder im Original als ersterlernter Sprache des:der Autor:in oder in auf ein monolinguales Publikum ausgerichteten Übersetzungen. Im vorliegenden Projekt liegt der Fokus auf literarischen Texten, die mit diesem monolingualen Paradigma brechen. Im Zentrum stehen literarische Kompositionen von Autor:innen, die Sprachgrenzen (und in vielen Fällen auch Landesgrenzen) überschreiten und (eine) ihre(r) Zweitsprache(n) als Ausgangssprache für literarische Texte heranziehen.
Translingual in der Ausgangslage, thematisieren diese Texte nicht selten auch Sprachverwendung in der Literatur durch manifeste multilinguale Strategien wie Code-Switching und Sprachmischung bzw. latente Strategien wie Sprachverweise. Am Beispiel von Publikationen, deren Primärsprache der weltweit meistgesprochenen Zweitsprache Englisch entspricht, werden multilinguale Strategien aus literaturwissenschaftlicher Perspektive unter Miteinbeziehung von Sprachwissenschaft und Soziolinguistik erforscht. Ziel des Projekts ist es, die Auswirkungen der Anwendung von Zweitsprachen in der Literatur auf Erzähl- und Inhaltsebene zu analysieren und in den Bereich der multilingualen Literaturforschung einzugliedern.
Forschung: Lisa Schantl
Einsatz der Ironie und individueller Sprachenpolitik in der filmischen Sprache und Prosa von Paolo Sorrentino
Anhand von Paolo Sorrentinos Dreh- und Prosaarbeiten werden verschiedene Kommunikationsstrategien und sprachstilistische Elemente, die der Verfasser zur Charakterisierung von Protagonisten heranzieht, untersucht. Ein Fokus im vorliegenden Projekt liegt auf der Analyse der unterschiedlichen sprachlichen Darbringungsformen der Ironie in Sorrentinos Werken. Ein weiterer Aspekt, der beforscht wird, sind lebensweltliche und sprachwissenschaftliche Konzeptualisierungen von „Gesellschaft“ und „Kultur“, die alle Filme und Prosaarbeiten des Autors durchdringen. Ein dritter Schwerpunkt der Untersuchung ist die durch sprachliche Stilmittel umgesetzte Figurenzeichnung. Sorrentino bedient sich einer Vielzahl sprachlich dominierter Darstellungsformen, um reale und fiktive Figuren, die die italienische Gesellschaft seit den 1970er Jahren geprägt haben, zur Geltung zu bringen.
Personen des öffentlichen Lebens von Andreotti bis Berlusconi, von Jep Gambardella über Tony Pagoda werden durch die Art der Darbietung greifbar. Als Protagonisten in Sorrentinos Arbeiten treten aber nicht nur Personen, sondern ebenso monumentale Kunstobjekte und Landschaftszüge auf. Sie nehmen eine tragende Rolle für die Thematisierung gegensätzlicher und sich dabei wechselseitig bedingender Konzepte ein. Dazu zählen Heiliges versus Profanes, Leben und Tod, Komödie und Tragödie, Reflexionen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sorrentinos Œuvre bietet eine umfangreiche Grundlage zur Untersuchung jener sprachstilistischen Besonderheiten, durch die sich die künstlerische Handschrift des Autors auszeichnet. Ziel des Projekts ist die Analyse der oben beschriebenen Besonderheiten unter sprachlich-literarischen, soziokulturellen und filmischen Gesichtspunkten.
Forschung: Giulia Tardivo
Of roots and routes: Lokale und translokale Stimmen in Literatur und Film des südlichen Afrikas
Das Projekt untersucht die Beziehung zwischen Sprache und Identität im südlichen Afrika, mit einem Fokus auf die sprachlichen Repertoires und Stimmen in literarischen Texten und Filmproduktionen. Pluralität und Hybridität gelten als inhärente Eigenschaften der sprachlichen und kulturellen Praktiken der Region. Diese manifestieren sich in verschiedenen Formen in literarischen und filmischen Texten. Das Projekt hat zum Ziel, das Zusammen- und Wechselspiel zwischen Sprache, Identität, Mobilität und Hybridität mit einem Fokus auf lokale Schriftsteller:innen und Filmemacher:innen und einem Verständnis des weiteren soziolinguistischen und literarisch-kulturellen Kontextes zu untersuchen.
Ein Hauptaspekt stellt die Agency, die Handlungsmacht, der mehrsprachigen Literatur- und Filmschaffenden in Bezug auf die Konstruktion von Identitäten durch Sprache dar. Es finden sowohl soziolinguistische als auch literarisch-kulturelle Perspektiven ihre Berücksichtigung. Die fluiden und dynamischen Eigenschaften von Sprachpraktiken werden durch das Konzept des sprachlichen Repertoires betont: die linguistischen Ressourcen, die in einem Werk eingesetzt werden, und ihre Rolle in der Konstruktion, Aushandlung und potentiellen Negation von Identitäten.
Forschung: Angelika Heiling
Styrideology – Sprachideologien in der Steiermark und im Prekmurje
Die gemeinsame Besiedlung der Steiermark durch deutsch- und slowenischsprachige Menschen reicht bis ins frühe Mittelalter zurück und führte zu einer langanhaltenden gegenseitigen Beeinflussung. In der Feudalzeit spielte die Sprache noch eine untergeordnete Rolle bei der Identitätsbildung. Mit der Zeit entwickelte sich eine städtisch-agrarische Dichotomie, die mit der Sprachverwendung überlappte. Im 18. und 19. Jahrhundert entstand ein ethnolinguistischer Nationalismus, der zu nationalistischen Unruhen zwischen „Deutschen“ und „Slowenen“ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert führte. Die Weltkriege und der Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus führten zur Trennung zwischen Österreich und Slowenien. Nach der Unabhängigkeit Sloweniens kommt es wieder zu einer Annäherung.
Diesen Umstand sehen wir als Anlass, der Sache genauer auf den Grund zu gehen. Und zwar mit den Fragen „Was denken wir nun voneinander?“ und da zwischenmenschlicher Kontakt bekanntlich auf Sprache beruht, fragen wir vor allem: „Was denken wir über die Sprache unserer Nachbarn?“ Durch eine diskurshistorische Herangehensweise (Reisigl & Wodak 2009) wollen wir darstellen, wie sich Sprachideologien im Verständnis von Mehrsprachigkeit manifestieren und wie sich genannte historische Prozesse im metalinguistischen Diskurs widerspiegeln. Wir sprechen dazu mit Menschen im steirischen Grenzgebiet, und zwar auf österreichischer und slowenischer Seite, und auch im historisch eng mit der Region verwobenen Prekmurje.
Reisigl, Martin and Ruth Wodak (2009): “The Discourse-Historical Approach (DHA)”. In: Methods of Critical Discourse Analysis. Ed. by Ruth Wodak and Michael Meyer. Los Angeles: SAGE, 87–121.
Forschung: Jakob Wiedner, Chiara Wagner
Abgeschlossene Projekte
Multilinguale Steiermark
Das interdisziplinäre Projekt Multilinguale Steiermark dokumentiert und beschreibt Mehrsprachigkeit und Pluralität in der Steiermark aus diachroner und synchroner Perspektive.
Zielsetzungen waren (a) die Erfassung regionaler sprachbasierter Identitätskonstruktionen, (b) das Sichtbarmachen von und das Schaffen von Bewusstsein für historisch gewachsene und gegenwärtige Pluralität als fixer Bestandteil der Region und (c) die Partizipation der Bevölkerung durch den interaktiven Charakter des Projekts.
Multilingual Graz
Multilingual Graz dokumentiert die sprachliche Vielfalt der Stadt in Zusammenarbeit mit plurilingualen Sprecher:innen, NGOs, Bildungsinstitutionen und Einrichtungen der Stadtverwaltung. Die gewonnenen Informationen werden über eine Webpage zugänglich gemacht und sollen in weiterer Folge in Weiterbildungsangeboten für verschiedene Praxisfelder zum Einsatz kommen. Darüber hinaus initiiert und fördert Multilingual Graz Aktivitäten zum Thema Mehrsprachigkeit in Graz auf akademischer und kultureller Ebene.
Mehrsprachige Gemeinschaften in Graz
In dieser Studie wurde die soziolinguistische Situation von drei Gemeinschaften untersucht, die während der letzten Jahrzehnte nach Graz gekommen sind:
- Farsi-Sprecher:innen, von denen manche auch in anderen Sprachen der Herkunftsregion kompetent sind;
- Kinyarwanda- und Kirundi-Sprecher:innen aus Rwanda bzw. Burundi, die zusätzlich Swahili als Verkehrssprache der Herkunftsregion und die ehemaligen Kolonialsprachen Englisch und/oder Französisch verwenden;
- Türkisch-Sprecher:innen, die häufig auch andere Sprachen der Herkunftsregion, vor allem Kurmanji sprechen.
Mithilfe semistrukturierter Interviews wurden Daten zu Sprachverwendung, Spracheinstellung und Sprachtradierung erhoben. Ziel des Projekts war die Beschreibung sprachlicher Pluralität im Kontext urbaner Mehrsprachigkeit, um die soziopolitische Relevanz der einzelnen Sprachen aufzuzeigen.
ROMLEX – Lexikalische Datenbank der Romani-Varietäten
ROMLEX dokumentiert das Vokabular bzw. den lexikalischen Bestand des Romani. Gegenwärtig kann man über eine frei zugängliche Webseite das Vokabular von über 20 verschiedenen Romani-Varietäten konsultieren und erhält Übersetzungen ins Englische, Deutsche und andere relevante Mehrheitssprachen (Ungarisch, Rumänisch, Serbisch etc.).
QualiRom – Quality Education in Romani for Europe
Der Forschungsbereich Plurilingualismus hat Unterrichtsmaterialien in den Romani-Varietäten Arlije, East Slovak, Kalderash and Lovara entwickelt. Im Rahmen des Projekts kann Romani-Unterricht auf verschiedenen Bildungsniveaus (Primarsektor bis tertiärer Sektor) und in verschiedenen Regionen Europas durchgeführt werden.
RomBase – Didaktisch aufbereitete Information über Roma
RomBase bietet Informationen zur soziokulturellen und soziohistorischen Situation der Roma. Durch die Bereitstellung gut recherchierter Materialien leistet RomBase einen Beitrag zum Abbau von Vorurteilen, Stigmatisierung und Diskriminierung. Weiters trägt RomBase zur Verbesserung des Unterrichts für und über Roma bei, indem es Jugendlichen und Lehrenden die Möglichkeit bietet, sich auf seriöse Art und Weise mit Kultur und Geschichte auseinanderzusetzen.